Posted on Februar 22, 2016 by Phil Tanis
In den Ruinen der Großen Kirche von Emden, einem herrlichen Gebäude im gotischen Stil, das durch Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, ist in den 1990er Jahren eine Spezialbibliothek für reformierte Theologie und Geschichte entstanden. Im Laufe der Jahre ist die Johannes a Lasco Bibliothek zu einem beliebten Konferenzort sowie zu einem anerkannten Kunst- und Kulturforum geworden. An diesem besonderen Ort fand vom 17. bis 19. Februar 2016 eine internationale Konferenz zu „Migration und Aggression in Europa“ auf Einladung des Reformierten Bundes und des europäischen Gebietes der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen statt.
Die über 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus verschiedenen Ländern Europas wurden sich sehr bald der hohen symbolischen Bedeutung dieses Veranstaltungsortes bewusst, denn die Stadt Emden war im 16. und 17. Jahrhundert ein Zufluchtsort für tausende verfolgter reformierter Christen und die Große Kirche trägt bis heute den Ehrentitel Moederkerk (Mutterkirche), weil sie im 17. Jahrhundert das Überleben der bedrohten niederländischen Gemeinden ermöglicht hat.
Die Konferenz begann mit einer Analyse der politischen Situation, die zur beispiellosen Massenflucht aus dem Mittleren Osten nach Westeuropa geführt hat. In seinem Eröffnungsreferat sagte der deutsche Journalist Andreas Zumach einen weiteren Zustrom von Flüchtlingen aus Syrien und der Region in den kommenden zwei bis drei Jahren voraus. Der Mangel an politischer Stabilität in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens werde zu immer stärkerer Migration führen. Er hob hervor, dass die weltweite Gemeinschaft dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen die notwendige Unterstützung versagt habe, als es gegolten hätte, auf die größte Flüchtlingswelle seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs angemessen zu reagieren.
Einige Referenten konnten deutlich machen, dass der Reformator Johannes Calvin eine besondere Affinität zur Situation von Flüchtlingen hatte, weil er selber mit tausenden seiner französischen Glaubensgeschwister fliehen und im Exil leben musste. Diese Tatsache hat großen Einfluss auf die reformierte Theologie, die laut Herman Selderhuis aus den Niederlanden „ein Kirchenmodell hervorgebracht hat, das für Migration geeignet ist und gut transportiert und exportiert werden kann“.
Dr. Achim Detmers, Generalsekretär des Reformierten Bunds in Deutschland, sprach über „Calvins Flüchtlingstheologie“ und stützte sich insbesondere auf den Exodus-Kommentar des Reformators aus dem Jahr 1563, in dem die Not der Israeliten in Ägypten mit den Leiden der verfolgten Protestanten in Frankreich verglichen wird. Mit überraschend klaren Worten hat Calvin zu politischen und sozialethischen Themen Stellung genommen, etwa der Fürsorge für bedürftige Ausländer, gewaltlosem Widerstand gegen Tyrannei und zivilem Ungehorsam.
Der südafrikanische Theologe Robert Vosloo stützte sich auf Calvins Predigt über Galater 6, 9-11, um das Konzept der „Wiedererkennung“ (recognition) zu erläutern, das bei Calvin eine wichtige Rolle gespielt hat und demzufolge „wir unser eigenes Menschsein im anderen –wie in einem Spiegel- erkennen, im Amen und Verachteten, im Fremden“.
Einen weiteren Zugang zum Thema boten die Bibelarbeiten, etwa die Auslegung von Hiob 1, Vers 15 („Ich ganz allein bin entronnen, um es dir zu berichten.“), mit der die Pastorin Sabine Dreßler darauf hinwies, wie wichtig es ist, den Überlebenden zuzuhören, auf ihre Geschichten zu achten und ihnen Raum zu geben, wo sie ihre Erfahrungen mitteilen und über ihre Traumata sprechen können. Der emeritierte Bischof Gusztav Bölcskei aus Debrecen in Ungarn rief den Zuhörern die Bedeutung der Psalmen in der reformierten Spiritualität in Erinnerung. Die Psalmen seien für alle, die Unterdrückung oder Verfolgung erleiden, der Inbegriff des Trostes.
Professor Selderhuis unterstrich in seinem Vortrag über den „Fremden in unserer Mitte”, welche bedeutende Rolle der Schutz des Fremden im Alten Testament einnimmt. Die hohe Achtung, die das Alte Testament in der reformierten Tradition genieße, mache es „leichter mit den Themen Flucht, Migration und Ausländer theologisch umzugehen”. Zum Beispiel würde im 5. Buch Mose und in den Psalmen immer wieder der Fremde zusammen mit den Waisen und Witwen dem besonderen Schutz des Volkes Israel anbefohlen. Darüber hinaus gelte es aber auch die eschatologische Dimension des Themas im Blick zu haben, denn als Christen seien wir ja der Überzeugung, „dass diese Welt nicht unsere Heimat ist und dass wir eine Reisegesellschaft in der Nachfolge Jesu sind“.
Einen historischen Zugang eröffnete die Kirchenhistorikerin Susanne Lachenicht mit einer Studie über „Französisch-reformierte Theologie und hugenottische Identität im Refuge“. Aus der Schilderung der sehr unterschiedlichen Erfahrungen der Glaubensflüchtlinge in den verschiedenen Zufluchtsländern wurde deutlich, dass auch damals neben Gastfreundschaft und Aufnahmebereitschaft schroffe Ablehnung der Fremden, unbegründete Vorurteile und Ausländerfeindlichkeit weit verbreitet waren.
Der Politologe Paolo Nao von der Universität Rom sprach über „Alte und neue Formen von Einwanderung und Integration“ und beschrieb Integrationsmodelle aus den USA (melting pot), Frankreich (Assimilation), Großbritannien (Multikulturalismus) und Italien (arbeitsplatzorientierte Integration), die allesamt gescheitert seien. Als Vertreter der Föderation Protestantischer Kirchen in Italien sprach er sich für einen Paradigmenwechsel aus, der auf Gegenseitigkeit beruhen und die zunehmende Bedeutung des Religiösen ernstnehmen müsse.
Unter der Überschrift „Aufbruch ohne Wiederkehr – Fremdheit in der Moderne” befasste sich die Politologin Martina Wasserloos-Strunk mit Deutungen des Fremden von Georg Simmel und Max Weber und bot damit einen Zugang zum Thema aus soziologischer Perspektive, der von empirischen Beispielen untermauert war. Zum Abschluss der Konferenz sollte mit einem Podiumsgespräch unter der Überschrift „Migration trifft auf Protestantismus“ die Rolle der Kirche in den Mittelpunkt gestellt werden. Als Gesprächsteilnehmer haben Prälat Martin Dutzmann, Bevollmächtigter der EKD bei der Bundesregierung; Doris Peschke, Referentin bei Churches Commision for Migrants in Europe in Brüssel; Günter Krings, Mitglied des Bundestages; Professor Paolo Naso, Föderation Protestantischer Kirchen in Italien und Professor Robert Vosloo, Theologische Fakultät in Stellenbosch, Südafrika, mitgewirkt.
Ein besonderes Erlebnis für alle Teilnehmenden war der traditionelle Tee, zu dem die Bürgermeisterin Andrea Risius eingeladen hatte. In ihrem Grußwort erklärte sie, wie es die Hafenstadt im 17. Jahrhundert dank der starken Zuwanderung reformierter Glaubensflüchtlinge zu Reichtum und Ruhm gebracht hat und sogar mehr Schiffe besaß als ganz Großbritannien. Diese Schiffe brachten Ware aus aller Welt nach Ostfriesland, darunter auch Tee. „In den letzten Monaten hat Emden hunderte von Flüchtlingen aufgenommen“, sagte sie. „Darin bleiben wir unserer Tradition treu, aber auch darin, dass wir unseren Gästen immer eine Tasse schwarzen ostfriesischen Tee mit Sahne und Kluntjes anbieten.“
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